Am 04.09.2010 hatten wir, das sind Hubertus Becker und Stephan Schelle,
die Möglichkeit vor dem Marillionauftritt Steve Hogarth auf dem Gelände
der Loreley zu sprechen. Hier nun das Interview mit dem sympathischen
Musiker.
Musikzikus-Magazin:
Vor 23 Jahren, im Juli 1987 gab es ein außergewöhnliches Konzert von
euch hier auf
der Loreley. Gerade die deutschen Fans – und wahrscheinlich nicht nur
die – schwelgen noch immer in Erinnerungen daran. Wie sieht das mit dir
aus?
Steve:
Nun, ich habe das Konzert mal auf Video gesehen. Aber ich glaube nicht,
dass es das beste Live-Video ist, das wir jemals hatten (lacht).
Jedenfalls schwelge ich nicht in Erinnerungen daran.
Musikzikus-Magazin:
Steve, was bedeutet es für dich nun mit Marillion hier auf der Bühne
stehen zu können? Hat diese Location für dich auch eine besondere
Ausstrahlung?

Steve:
Nein, außer die Tatsache, dass es wunderschön ist hier und ich mich auf
den Auftritt freue! Der Rest der Band fährt bis heute Abend wieder
zurück ins Hotel, aber ich werde die Zeit hier genießen!
Musikzikus-Magazin:
Steve, wie stehst du selbst zu den alten Songs? Du bist ja mittlerweile
viel länger der Frontmann von Marillion und doch verbinden viele Fans
Marillion immer noch mit Stücken wie „Keyleigh“, „Market Square Heroes“
usw.
Steve:
Moment mal, von welchen Fans redest du? Wie willst du das wissen? Hast
du dir das ausgedacht, oder hast du die Fans gefragt?
Musikzikus-Magazin:
Gut, wir haben das jetzt mal angenommen…
Steve:
Wir machen aber bei unseren Fans Umfragen und zwar jährlich. Und ein
Song wie „Kayleigh“ kommt im Schnitt so auf Platz 22. Das sage ich also
nicht nur, weil ich ein Interesse daran habe, weil ich glaube, dass die
neuen Sachen besser sind. Ich meine, du würdest Sting heute doch auch
nicht fragen, ob „Roxanne“ der beste Song ist, den er jemals gemacht
hat. Fragst du das, weil „Kayleigh“ und „Lavender“ die erfolgreichsten
Songs in Deutschland waren? Ich meine „Kayleigh“ ist wirklich ein toller
Song, keine Frage. Bei mir ist es natürlich so, dass ich nicht da war,
als diese Songs entstanden sind. Aber du könntest genauso gut die
anderen Bandmitglieder danach fragen und sie würden dir antworten, dass
das nicht die wichtigsten Songs sind.
Musikzikus-Magazin:
Na gut, dann verrat uns doch mal deine Lieblingssongs!

Steve:
Oh, das ist echt ne schwierige Frage. Also zuerst mal: Ich höre
normalerweise unsere Musik nie selber. Wenn das dann in ganz seltenen
Fällen doch einmal vorkommt, bin ich echt positiv überrascht, wenn ich
ehrlich sein soll! Vieles hatte ich nämlich schlechter in Erinnerung.
Ich habe schon ein paar Songs, von denen ich sage, dass sie meine
Favoriten sind, wobei ich mir aber nicht sicher bin. Wenn du mich jetzt
also darauf festnageln willst, mir die Knarre an den Kopf hältst und von
mir verlangst, dass ich unser Gesamtwerk durchhöre, wäre die Antwort
vielleicht eine andere. Aber von der Erinnerung her… mein Gott… „The
Invisible Man“ ist vielleicht das Beste, was wir jemals gemacht haben,
musikalisch und vom Text her. Das ist einer der seltenen Fälle, in denen
die Musik dem Geist des Textes in jedem Moment folgt. Ich frage mich bis
heute, wie wir das hinbekommen haben. „Beyond You“ vom Album „Afraid Of
The Sunlight“ kommt sicher gleich danach, weil es mich immer noch zu
Tränen rührt. Und ich habe es geschrieben. „Happyness Is The Road“ mag
ich ebenfalls, „Easter“, und klar: „Kayleigh“, „Lavender“ (hier müssen
alle lachen). „Garden Party“ finde ich auch klasse, der Text ist
fantastisch.
Musikzikus-Magazin:
Was wird die Zuschauer heute auf der Loreley erwarten?
Steve:
Tja, nun… Ähm, wie heißt dieses Festival nochmal?
Musikzikus-Magazin:
Night of the Prog!
Steve:
Ach so, klar!
Night of the Prog! Ja, wir
haben uns gedacht, dass es echt fahrlässig wäre, keine progressive Musik
zu spielen, sondern nur die Pop-Songs. Die Leute wollen sicher „Out Of
This World“ und „Strange Engine“, also die progressiven – in Klammern:
langen – Stücke hören. Also insgesamt mehr die konzeptionellen Stücke.
Ich freue mich schon sehr, denn beim Soundcheck heute Morgen, hörte sich
meine Stimme fantastisch an. Wenn das so bleiben sollte, werde ich mich
bei der Show wirklich gut fühlen und es wird ein toller Auftritt werden!
(Klopft auf den Holztisch)

Musikzikus-Magazin:
Wird es vom heutigen Gig einen Mitschnitt geben?
Steve:
Ich weiß nicht, ich denke schon.
Musikzikus-Magazin:
Eine DVD wäre doch interessant!
Steve:
Klar, so was wie „Then And Now“ als Doppel DVD (lacht).
Musikzikus-Magazin:
Das heute könnte besser werden als der Auftritt 1987!
Steve:
Das will ich doch schwer hoffen! Schließlich haben wir heute eine
bessere Band. Vielleicht sind wir heute nicht bekannter, aber besser!
Musikzikus-Magazin: Erzähl doch mal ein bisschen zu eurem Verhältnis
zu den Fans. Es ist ja eine ganz besondere Liebe, die sich unter anderem
in einer ausufernden Veröffentlichung von Livemitschnitten über euer
eigenes Racket Records Label ausdrückt und den tollen jährlichen
Beigaben (CD oder wie im letzten Jahr eine DVD) für die Mitglieder der
Fanclubs.

Steve:
Das stimmt! Wir sind in den letzten Jahren eine echte Familie geworden,
haben gemerkt, dass unsere Fans extrem enthusiastisch und treu sind. Das
zeigen auch ihre zahlreichen Zuschriften, die immer wieder bestätigen,
wie wichtig unsere Musik für sie ist. Das haben wir besonders gemerkt,
als die amerikanischen Fans mehr als 25.000 US-Dollar gesammelt haben,
um die Tour zu ermöglichen. Das hat uns echt die Augen geöffnet, uns
klar gemacht, dass die Fans uns weit mehr unterstützen als das eine Band
erwarten kann. Und zum anderen haben wir erkannt, dass das Internet die
Zukunft ist, denn über das Internet wurde nicht nur das Geld gesammelt,
es ermöglicht uns auch, mit allen Fans auf der ganzen Welt gleichzeitig
in Kontakt zu sein – und das umsonst. Dieses Potenzial war uns schon
1996 klar. So waren wir – soweit ich weiß – die erste Band in UK mit
einer eigenen Website. Und ich glaube, dass die Seite heute noch eine
der umfangreichsten, tiefsten einer Rockband überhaupt ist.
Natürlich
bieten wir unsere Musik auch über das Internet an, aber wir machen auch
Umfragen, binden unsere Fans ein und bekommen so mit, was sie denken.
Und dann
sind da seit 10, 15 Jahren noch die Conventions, wo wir für ein
Wochenende ein ganzes Feriencamp buchen, z. B. einen Center Park in
Holland, wo wir dann drei völlig unterschiedliche Auftritte spielen. Da
müssen wir mal eben sieben Stunden Musik einstudieren. Aber es lohnt
sich für uns, weil es einfach toll ist, zu wissen, dass die Leute aus
allen Teilen der Welt anreisen. Freundschaften entstehen und einige
manchmal sogar heiraten.
Die
Atmosphäre ist einfach unglaublich, denn es ist wie in einer Kirche, wir
sind alle unter einem Dach. Die Security-Kräfte können das gar nicht
glauben und kommen hinterher zu uns und sagen: „Es gab keine Probleme,
wir hatten nichts zu tun.“ Das haben sie noch nicht erlebt. So ist es
uns vor ein paar Jahren auch in Kanada ergangen. Die Leute von der
Security sagten: „Wir arbeiten teilweise seit 20 Jahren hier, aber das
haben wir noch nicht erlebt. Es gab keine Probleme, die Leute haben sich
nicht einmal aufgeregt, keiner hat geflucht, wir mussten niemanden
rausschmeißen.“ Und dann haben sie sich noch darüber aufgeregt, dass wir
durch die Vordertür durch unsere Fans gekommen sind. Das hätte noch nie
irgendjemand gemacht.

Also, ihr
seht schon: Wir haben eine erstaunliche Beziehung zu unseren Fans. Und
sie lassen uns einfach unsere künstlerische Freiheit dabei, verlangen
von uns nicht was wir zu schreiben oder zu singen haben. Die für uns
überragende Botschaft von ihnen ist: „Macht doch einfach, was ihr wollt.
Wir freuen uns!“
Musikzikus-Magazin: Lass mich da mal einhaken: Du schilderst das
Internet als sehr positiv. Andere wiederum sehen es als einen Fluch,
weil man ja praktisch alles herunterladen kann, was man will.
Steve:
Ich persönlich denke, das ist Quatsch. Wenn wir mal zurückdenken an
früher, wie war das denn da? Wir haben alle auf die große Plattenfirma
gewartet, und von dem Vertrag haben wir dann 3% der Erlöse gehabt, 97%
hat das Label selbst eingesackt. Wenn wir dagegen unsere Musik über das
Internet vermarkten, bekommen wir annähernd 100%. Außerdem gehe ich
davon aus, dass die Leute unsere Musik nur herunterladen, weil sie sie
mögen. Und wenn das der Fall ist, werden sie kommen, um uns zu sehen und
kaufen die Sachen dann eben hinterher. Wir müssen uns doch immer fragen,
was wir verkaufen. Verkaufen wir um des Geldes wegen, oder verkaufen wir
das, was uns wichtig ist? Wenn wir letzteres tun, werden die Leute der
„Kirche“ folgen. Kirche ist jetzt ein komischer Begriff. Ich meine
damit, dass unsere Fans zusammenkommen, an uns glauben. Aber ich glaube,
hoffe nicht, dass sie zu mir beten (lacht).
Musikzikus-Magazin: Wie ist es eigentlich zu dem Akustik „More Than
Less“ Album gekommen?
Steve:
Also das ist so gekommen, dass zahlreiche Fanclubs ihre Jubiläen
feierten und uns baten zu kommen. Und wo wir schon mal da waren, wollten
sie auch, dass wir was spielen. Also sind wir mit ein paar
Akustik-Gitarren auf die Bühne gegangen und haben angefangen. So sind
die „Los Trios“ entstanden, und Pete, Steve und ich haben die
Amerika-Tour alleine gemacht. Dabei ist uns aufgefallen, dass einige
Songs in den neu arrangierten Versionen besser klingen als in den alten.
Und daher sind wir nach dem „Happyness Is The Road“-Album eben nicht
hingegangen und haben ein ganz neues Album konzipiert. Wir haben uns
stattdessen unser bestehendes Gesamtwerk vorgenommen und geschaut, was
wir davon neu arrangieren wollen. Und das hieß für uns nicht, die Songs
nur einfach „leiser“ zu spielen! Wir wollten eine Neuinterpretation,
haben viele zusätzliche Instrumente wie Glockenspiel, Xylophon usw. mit
hereingenommen und sehen jetzt, dass die neue Musik die Songs echt
verändert hat. Auf das Ergebnis sind wir alle stolz! Die Tour haben wir
auch aufgenommen und vom Abschlusskonzert in der Cardigan Hall in
Chelsea wird es auch eine DVD geben, auf die ich mich echt freue.
Musikzikus-Magazin: Kannst du schon sagen, wann ein neues Album
erscheinen wird?
Steve:
Das wird noch dauern. Wir wollen kein Album machen, nur um was zu
veröffentlichen. Das haben wir nie getan. Wir werden warten, bis wir das
Gefühl haben, dass wir etwas zu sagen haben. Wir haben uns im Frühjahr
zwar nach Portugal zurückgezogen, sind aber sehr schnell zu der Einsicht
gelangt, dass wir uns nur quälen, dass uns eine Pause besser täte.
Einfach um den Druck herauszunehmen. Im Moment jammen wir einfach ein
bisschen rum. Wir haben jetzt auch schon 16 Alben veröffentlicht, und
die Gefahr ist einfach da, dass du dich entweder wiederholst oder den
Leuten Lügen erzählst. Beides wollen wir nicht. Also das nächste Mal,
wenn ich meinen Mund öffne, möchte ich gerne die Wahrheit erzählen!

Musikzikus-Magazin: Na solange ihr nicht die Freude daran verliert
auf Tour zu gehen, ist das doch OK!
Steve:
Ja, genau das ist es, was wir getan haben! Weil wir einfach Spaß haben,
zusammen zu spielen. Der Prozess, ein neues Album zu machen, ist
wesentlich schwieriger, weil wir unsere Hürden selbst sehr hoch legen.
Irgendeinen Müll schreiben, kann jeder, aber auf einem bestimmten Niveau
zu bleiben, ist verdammt schwer!
Musikzikus-Magazin: OK, vielen Dank!