Schnaps im Silbersee
(Egen 4, Egen, 18.11.2017)


     
Peter, Judith und Melvin

Egen 4 im kleinen bergischen, 300-Seelen-Ort Egen, hat eine Büchertauschbörse. In dieser kleinen, aber besonders feinen und atmosphärischen Location, die früher mal als Scheune gedient hat, finden seit mehreren Jahren Konzerte statt. Inmitten von vollgestopften Bücherregalen sitzt das auf überschaubare Zahl anwesende Publikum, um Livemusik von Künstlern aus der ganzen Welt zu genießen. So konnten schon Musiker aus Großbritannien, Italien, Frankreich, den USA und sogar Australien begrüßt werden. In der Regel finden hier Folk- und Bluesmusiker ein besonders andächtiges Publikum. Der Abend des 18.11.2017 stand aber unter dem Banner der Liedermacher.

    

     

Karl May muss man nun wirklich nicht mehr vorstellen und sein „Schatz im Silbersee“ ist einer seiner bekanntesten Romane (steht übrigens auch in einem der Regale in Egen). Den Schnaps im Silbersee dürften aber nur wenige kennen, handelt es sich doch um eine junge Band aus Berlin, die am 18.11.2017 Station in Egen machte und ihre Musik im Umfeld von deutschem Singer/Songwriter bzw. Liedermacher, präsentierte. Bisher hatte ich noch nichts von diesem Trio gehört und so war es für mich eine musikalische Wundertüte, die ich gerne geöffnet habe. Die Überraschung war groß, denn ich hätte nie gedacht hier die Zukunft der deutschen Liedermacherszene zu sehen bzw. zu hören.

    

Die in Berlin ansässigen Judith Retzlik (Geige, Gesang), Peter Wolter (Akustikgitarre, Gesang) und Melvin Haack (Akustikgitarre Gesang) haben bisher das Album „Jede Welt ist die Echte“ und die EP „Amrum“ veröffentlicht. Das Programm, das sie an diesem Abend boten, bestand aus älteren Songs und aus neuen Stücken ihres demnächst erscheinenden Albums „Synapsensilvester“ das kurz vor der Fertigstellung steht.

     

     

Die Musik besticht durch herrliche Melodien mit Folkelementen, intelligenten Texten bei denen sich die Musiker selbst auch nicht immer so ernst nehmen sowie einem wunderbaren Wortwitz. Gespickt war ihr Set darüber hinaus mit sehr humorvollen Ansagen, die auch das Publikum mit einbezogen und auf Zwischenbemerkungen immer eine humorvolle und spontane Antwort hatten. Ernste wie äußerst humorvolle und lustige Themen werden von Schnaps im Silbersee gleichermaßen in ihren Songs verarbeitet.

    

Ihr Konzert begann mit dem Song „Zum Tod der mittleren Hagen“ über Nina Hagen, in dem sie sich aus Fansicht darüber beklagten, dass Nina ihre Punkattitüden und ihr rebellisches Verhalten abgelegt hat und sich heute schlicht um 180 Grad gewandelt hat.

     

    

Den mitreißenden Song „Gerichtsmedizin“, geschrieben von Nico Walser (Pantoffelpunk), der heute der Schnapsens zweites Album „Synapsensilvester“ mixt & mastert und Wolfgang Grieger, interpretierten sie ebenfalls in einer sehr schönen Fassung. Daneben waren es aber vor allem ihre eigenen Songs mit Ohrwürmern wie „Kohlenstoff“ und „Noch lang nicht genug“ die so richtig abgingen. Ihr Lied „Unglückliche Liebe“ klingt dagegen wie eine Akustiknummer von den Ärzten. In dieses Stück bauten sie eine kurze Passage aus dem Song „Stranger“ von The New Model Army ein.

     

Das Stück „Amsterdam“ wurde von Judith’s Gesang getragen, in dem sie die Strophen in französischer Sprache sang. Den Song „Maria“ sang sie darüber hinaus auf Portugiesisch. Ansonsten wechselten sich Peter und Melvin beim Leadgesang ab. Und in den Song „Piep“, dem letzten vor der Pause, baute Judith eine wunderbare Passage ein, die stark an Limahl’s (ex-Kajagoogoo) „Neverending Story“ erinnerte und die ganz hervorragend in dieses Stück passte. „Neverending Story“ war in den 80’er ein Hit und gleichzeitig die Titelmelodie der deutschen Michael Ende-Verfilmung „Die unendliche Geschichte“. Zwei weitere Coverversionen fanden dann noch mit „Zum Projekt“ von Paniq und „Der Sturm“ von Liederjan den Weg in ihr Liverepertoire, denen sie ihren ganz eigenen Stempel aufdrückten.

     

    

Musikalisch boten die drei Musiker an ihren Instrumenten eine hohe Qualität und auch gesanglich, ob Solo oder mehrstimmig überzeugten sie auf ganzer Linie. Ob leise Töne oder Reggaerhythmen, Folkklänge oder experimentelle Einschübe, ob besinnlich oder druckvoll, sie beherrschten die ganze Palette der Klaviatur. Dabei wirkte ihr Auftritt aber so frisch und mit einem natürlichen Charme durchzogen, dem man sich nicht entziehen konnte.

     

Mit ihren Texten und Ansagen strapazierten sie dabei die Lachmuskeln der Besucher auf’s Beste. Da wird so mancher am nächsten Tag einen Muskelkater gehabt haben.

     

    

Wer die Zukunft der Liedermacher-Musik bzw. des deutschsprachigen Singer/Songwriter sehen oder hören will, der muss sich den Namen Schnaps im Silbersee merken. Diesen drei Musikern gehört aus meiner Sicht die Zukunft, da sie sich nicht auf verstaubte Liedermacherstilistiken versteifen, sondern durch ihre Musik ihren intelligenten Texten einen modernen und eingängigen Anstrich verleihen, der auch oftmals zum Mitsingen animiert. Eine tolle Band, der die Zukunft vor den Füßen liegt. Von diesem Hochprozentigen aus dem Silbersee lasse ich mich gerne öfter berauschen.

                   

Setlist

Zum Tod der mittleren Hagen
Feiglinghintern
Zickiger Optimismus
Krisenherd
Konsequent
Gerichtsmedizin
Amsterdam
Wildgänsehaut
Piep
Kohlenstoff
Zum Projekt
Apfelsaft
Sarah & Peter
Maria
Dirty Talk
Individuum
Versen
Unglückliche Liebe
Sturm
Noch lang nicht genug

Zugaben

Sag morgens nie
Emotionaler Bankrott

Stephan Schelle, November 2017