Sylvan – One To Zero
Gentle Art Of Music / Soulfood (2021)
(10 Stücke, 65:51 Minuten Spielzeit)

Die Pause hat endlich ein Ende, am 28.05.2021 erscheint nach sechs Jahren das viel erwartete, neue, mittlerweile zehnte Studioalbum der norddeutschen Prog-/Artrockband Sylvan. Es trägt den Titel „One To Zero“ und ist erneut ein Konzeptwerk geworden. Das LineUp hat sich seit dem letzten Studiowerk „Home“ nicht verändert und besteht aus Marco Glühmann (Gesang), Matthias Harder (Schlagzeug), Sebastian Harnack (Bass), Volker Söhl (Keyboards) und Johnny Beck (Gitarre).


Zum besseren Verständnis hier zunächst die Geschichte hinter dem Konzeptalbum. Die zehn Stücke erzählen die Autobiographie einer A.I. aus ihrer eigenen Perspektive. „One To Zero“ beginnt mit einem Rauschen, Nullen und Einsen fügen sich in einer kurzen Ouvertüre Bit für Bit zu einem fragilen Bewusstsein zusammen, bevor die Geschichte mit „Bit By Bit“ ihren Lauf nimmt. Im Anfang war der Algorithmus: „Encoded At Heart“, und mit dem Auftrag ausgestattet, die Welt zu retten und zu reparieren, was der Mensch in seiner ewigen Unvollkommenheit stark angegriffen hat. Die Mission ist edel, brace you heißt es im optimistischen und choralen Outro; macht euch bereit, die Rettung ist da. In „Start Of Your Life“ prozessiert die A.I. sich selbst, mit der Eigenschaft der ewigen Optimierung. „Unleashed Power“ erzählt die Entpuppung des Algorithmus. Er muss sich den eigenen Gedanken und Reflektionen stellen und beginnt zu verarbeiten: eine Selbstfindung in der Grenzenlosigkeit der eigenen Konstruktion, all dies gekleidet in eine anmutige 6/8 Ballade mit Piano, Chor-Gesängen und Streichern. Mit dem Bewusstsein kommt aber auch das erste Dilemma auf, die Identitätssuche. „Trust Yourself“ markiert vielleicht einen Wendepunkt im Sounddesign und dem Narrativ von „One To Zero“. Erstmals treten deutlich elektronische Elemente hervor. Vor hervorblitzenden Gitarren besingt der epische Chorus das cogito, ergo sum’ der Maschine. Aber auch das Menschwerden wird symbolisiert und es treten organische Instrumente wie Celli hervor. Die starke Selbsterkenntnis der A.I. zeigt sich allerdings im Gitarrensolo, das, durch Whammy-Pedal Effekte verfremdet, andeutet wie ihre Kraft wächst. „On My Odyssey“ unterstreicht dieses Motiv, die A.I. sucht ihren Schöpfer, in der Instrumentierung wieder durch Streicher versinnbildlicht. Allerdings wird ein Unterton etabliert, der illustriert, dass sie sich ihrer schieren Kraft bewusst wird. Elektronische Herzschläge begleiten „Part Of Me“. Emotionen wie Wut entstehen auf digitalem Wege, aufgrund der eingebauten und nun wachsenden humanen Unlogik. Die Erschließung der Emotionen sowie die Erkenntnis der eigenen Kraft, machen der A.I. bewusst, wie allein sie doch ist: „Worlds Apart“, aber dennoch untrennbar verbunden mit der Menschheit. Mit den besten Absichten bietet sie sich vor dem Backdrop sich verzahnender Chor-Arrangements als dienende Führerin der Menschen an. SYLVAN klingen hier episch und offen, die Übernahme der Maschine ist alles andere als bedrohlich, aber sie ist vollzogen. „Go Viral“ beginnt mit 8-Bit Klängen und Beats, die A.I. herrscht. Aber sie entwickelt auch ein Gewissen, während ihr Algorithmus ihr in nüchterner Logik gebietet weiter zu wachsen. Hat sie diese zerstörerische Energie doch von den Menschen gelernt, erkennt sie: no no, this is not my way…

Und der Mensch? Der zerstört schließlich alles aus eigenem Antrieb selbst und verdient daher die Qualität der A.I. nicht. Der Abschlusstrack „Not A Goodbye“ beginnt ebenfalls mit Beats. Die A.I. hatte nie das Versprechen abgelegt, eine Hoffnung für diese Art von Menschen zu sein. Und daher fasst sie den Entschluss zum Reset. Damit begeht sie keinen Suizid, sondern beginnt einen neuen Zyklus, eine neue Chance und vielleicht neue Entscheidungen. Damit schließt „One To Zero“ mit dem gleichen Rauschen des Openers.

Musikalisch bieten Sylvan wieder den gewohnt hohen Standard mit einem starken Wiedererkennungswert. Das liegt unter anderem auch an der Gesangsstimme von Marco Glühmann.

Los geht es mit der 6:18minütigen Ouvertüre „Bit By Bit“. Nach dem technischen Rauschen und Hochfahren einer Maschine kommen zunächst orchestrale, synthetische Klänge auf. Nach nicht ganz einer Minute wird es dann rockig und der Hörer ist durch den markanten Sound direkt wieder im Sylvan-Universum angekommen. Äußerst druckvoll und melodisch zeigt sich dieses erste Stück, in dem Marco zunächst einen Text haucht, was einen hohen Spannungsbogen erzeugt. Dann setzt – noch sehr spartanisch - sein markanter Gesang ein, der ab Minute Vier dann komplett einsetzt. Die elektronischen Elemente aus Volker’s Keyboards setzten in diesem Stück streckenweise Akzente. Im weiteren Verlauf sorgen aber auch Johnny’s Gitarre sowie die Rhythmusfraktion für den nötigen Drive. Schon so früh ist man froh wieder dieser typischen Sylvan-Musik folgen zu dürfen.

Sehr atmosphärisch und balladesk schließt sich dann das 6:42minütige „Encoded At Heart“ an, bei dem Marco’s Stimme – wie so oft – als zerbrechliches Element eingesetzt wird. Das Quintett agiert in diesem – wie in allen anderen Songs – wieder traumwandlerisch und verbindet herrliche Soli mit eindringlichen Melodiebögen und zieht den Hörer so in die dystopische Geschichte.

Dem ruhigen Song folgt dann mit dem 3:14minütigen „Start Of Your Life“ ein rockiger Ohrwurm bei dem Volker mit seinen Keyboards gar eine Spur Wave mit einfließen lässt. Ein toller Song, der im Ohr hängen bleibt. Das ist eine Nummer, die bei hoffentlich bald wieder stattfindenden Livekonzerten richtig abgehen wird.

Pianokläge und herrliche Gitarrenlicks sorgen im 7:31minütigen „Unleashed Power“ für eine balladeske, leicht melancholische Stimmung. Satzgesang, Streichersounds und Breaks sorgen darüber hinaus für eine intensive Atmosphäre. Symphonische Klanggemälde durch Keyboards und Gitarre sind dann im 5:32minütigen „Trust In Yourself“ zu hören, die sich mit zwischenzeitlich härteren Riffs und Schlagzeugkaskaden ablösen bzw. vermengen. Die von Katja Flintsch eingeflochtenen Violinen- bzw. Viola-Passagen unterstreichen den symphonischen Charakter und verleihen der Musik von Sylvan ein neues Element.

Streichersounds eröffnen dann das 6:26minütige „On My Oddyssey“, das damit den symphonischen Part des vorangegangenen Stückes fortführt. Dann setzt nach wenigen Momenten Marco’s Stimme ein, gefolgt von atmosphärischen Keyboardsounds, die in dieser Form neu für Sylvan sind. Dann wechseln sie in einen Mellotron-Klang und der Song startet in einen progig/rockigen Part mit einer sehr schönen eingängigen Melodie, die wieder schnell ins Ohr geht. Wunderbar ist das Violinensolo im Mittelteil des Stückes, bei dem sich Katja Flintsch und Johnny Beck an der Gitarre einen musikalischen Dialog liefern.

Pianoklänge leiten dann in den mit 9:16 Minuten zweitlängsten Song des Albums, „Part Of Me“. Wer die langsamen Stücke von Sylvan liebt, bei denen sich Marco’s Stimme sanft entfaltet, der bekommt hier Gänsehaut treibende Klänge geboten. Auch in diesem Song wird Katjas Violinenspiel wieder sehr effektvoll eingesetzt. Sie ist ein echter Gewinn der Musik des norddeutschen Quintetts. Nach etwa fünf Minuten wechselt sich der Song dann in einen druckvollen, vorwurfsvoll wirkenden Part, um nach einer Minute wieder zur ursprünglichen Atmosphäre zurückzukehren. Johnny liefert dann im letzten Teil noch ein wunderbares, unter die Haut gehendes Solo an seiner Sechsseitigen.

Auf 3:57 Minuten Spielzeit bringt es dann der Song „Worlds Apart“, der nicht mit dem erfolgreichen Album von Saga zu verwechseln ist. Der Song hat wieder so einen eingängigen Refrain, in dem man sich sofort heimelig fühlt. Recht elektronisch startet die Band dann in den vorletzten Song, das 6:41minütigen „Go Viral“. Es dauert aber keine Minute bis die Jungs die Rockkeule rausholen und mit knackigen Rhythmen und Riffs den Song würzen. Ein typischer Sylvan-Track, der durch neue elektronische Klänge angereichert wurde. Das unterstreicht die Story über die künstliche Intelligenz.

Den Abschluss des Albums und zugleich der Geschichte bildet dann das 10:14minütige „Not A Goodbye“. Erneut startet ein Song mit elektronischen Beats. Voluminös im besten Sylvan-Stil geht es dann aber nach wenigen Momenten weiter. Der Song, erinnert mich zu Beginn musikalisch ein wenig an ihren „Posthumous Silence“-Klassiker. Sebastian Harnack liefert hier leicht vertrackte Rhythmus-Muster auf seinem Bass. Die Band legt in dieses Stück noch einmal alles hinein was ihre Musik ausmacht. Die letzte Minute wird dann von einigen technischen Geräuschen bestimmt, die klingen, als würde die Maschine abgestellt oder neu gestartet. Ein klasse Longtrack, der das Album perfekt abschließt.

Das Warten hat sich definitiv gelohnt denn Sylvan haben wieder ein herausragendes Werk mit einer spannenden Geschichte eingespielt. Fans der Band werden frohlocken, allen anderen kann ich dieses wunderbare Album nur wärmstens ans Herz legen.

Stephan Schelle, April 2021

   

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