Blanko

Kammerflimmer Kollektief - Wildling
Staubgold (2010)
(12 Stücke, ca. 60 Minuten Spielzeit)

Gestern habe ich zu diesem 8. Album der Karlsruher Band Kammerflimmer Kollektief eine Kritik geschrieben, in der ich versucht habe zu beschreiben, wie diese Musik klingt und aus was für Instrumenten sie sich zusammensetzt und welchen musikalischen Vorbildern sie verpflichtet sind. Als ich diese Kritik fertig gestellt hatte, klang mir die wundervolle Musik noch in den Ohren nach, also setzte ich mir meinen Kopfhörer von meinem CD-Walkman auf, packte mich warm ein und ging mit unserem Hund hinaus in die tief verschneite Winterlandschaft.


Und beim Spazieren entlang der weißen Felder, dem Gefühl des unter den Füßen knatschenden Schnees und den dabei sich in meinen Ohren befindlichen Klängen der Songs „Move Right In“, „Silver Chords“, „Aum A Go-Go“ und ihren betörenden Klängen sowie dem psychedelisch dunklem „In Transition (Version)“, bei welchem ich auf das große Feld hinter der Kurve zusteuerte und einen unwirklich schönen Anblick über das strahlende Weiß und einem Wetterleuchten, das einer Morgendämmerung in Mitten der Nacht glich hatte, wurde mir bewusst, das man die Musik von „Wildling“ so nicht beschreiben kann.

Denn genau das ist es eigentlich, was diese Musiker nicht erreichen wollen, das man ihre Musik greifbar macht. Man kann sie auch gar nicht greifbar machen. Die meditativen und trotzdem poppigen Klänge wollen ebenso wenig wie die Stimme, die zwar englisch singt aber ob ihrer Vokalakrobatik kaum verständlich ist, greifbar sein, sie wollen Gefühle und Stimmungen erzeugen. Und so kann das poppig leichte und doch ambiente „Move Right In“ den Hörer aus dem Alltag herausziehen und auf  die ca. 60 Minuten lange Reise von „Wildling“ geleiten. Wo die Reise dann mit dem sehr poppig groovenden und trotzdem schwebenden „Silver Chords“, dem Bass betonten ambienten und freundlichen „Aum A Go-Go“, dem mystisch dunklem und durch kakophonische Violinen verziertem „In Transition (Version)“, welches zwar  befremdent daher kommt, aber trotzdem nicht kalt und hoffnungslos ist, bleibt dem Hörer überlassen. Und die Reise kann und wird bei jedem neuem Hören woanders hingehen.

Doch bevor ich jetzt wieder in den Versuch verfalle, alles zu erklären, ein paar wenige Fakten, die für den Erstkontakt mit dem Kammerflimmer Kollektief nötig sind. Hörer, die bereits Werke der Band kennen, wissen sowieso, wovon ich rede und werden das neue Album höchstwahrscheinlich ungehört und ungelesen kaufen.

„Wildling“ ist Artpop, der Ambiente Klänge mit Postrock und avantgardistischen Klängen so geschickt verwebt, wie es bisher nur wenigen Künstlern gelungen ist. „Wildling“ bietet 11 Eigenkompositionen, die mit Harmonium, Keyboards, Programmings, einem unglaublich kräftigen Standbass, Violinen und auch Blasinstrumenten eine perfekte und unglaublich eingängige Symbiose aus Experiment und Ambient macht. Die Karlsruher reihen sich mit „Wildling“ in die Reihe der ganz Großen ein. Wer David Sylvians Werke wie „Dead Bees on a cake“ oder das „Nine Horses“ Album, Talk Talk´s Spätwerke, oder auch Bark Psychosis mag, wird auch „Wildling“ mögen. Und wer mit solchen Alben bisher Schwierigkeiten hatte, sollte mit „Wildling“ noch mal einen Versuch wagen.

Noch ein Hinweis für Leute, die das Kammerflimmer Kollektief bereits kennen: „Wildling“ setzt die Entwicklung der Band gradlinig fort. Nach dem experimentellen Hörbuch „Im erwachten Garten“ wird der Faden von „Jinx“ wieder aufgenommen und in noch eingängigerer und träumerischer Art fortgesetzt. Alles Experimentelle ist noch da, vielleicht sogar noch ausgeprägter, jedoch sind die ambienten und rhythmischen Grundlagen noch atmosphärischer und packender geworden.

Und so freue ich mich auf die nächste Reise, die ich mit „Wildling“ antreten kann. Ich weiß noch nicht, wohin mich diese so fremdartig und doch wohl bekannten, diese melancholischen und doch so warmen Klänge hintragen werden, doch ich weiß, das sie mich für kurze Zeit an einen Ort schicken werden können, wo ich mich fallen lassen kann und ein wenig Kraft schöpfen kann.

Besetzung

Heike Aumüller: voice, harmonium, flute & synthesizer
Johannes Frisch: double bass
Thomas Weber: electric guitars, percussion, piano & devices

Christopher Brunner: drums (# 1, 3, 5 & 10) & xylophone (# 3)
Dietrich Foth: saxophone (# 2 & 5)

Wolfgang Kabsch, Februar 2010

   

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