Gazpacho – Tick Tock
 

Gazpacho – Tick Tock
HWT / sony music (2009)
(4 Stücke, 49:27 Minuten Spielzeit)

Das Gegensätze unglaublich befruchtend und spannend sein können, dass beweist die sechsköpfige norwegische Band Gazpacho auf ihrem gerade erschienen neuen Konzeptalbum „Tick Tick“. Die Musiker aus dem hohen Norden haben sich für ihren fünften Longplayer - nach dem schon sehr guten 2007’er Album „Night“ - als Thema die Geschichte des französischen Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry ausgesucht, der nach dem Absturz seines Flugzeugs im Dezember 1935 einen tagelangen Marsch durch die endlose Sahara absolvieren musste, um zu überleben. Antoine hat seine Geschichte in dem Buch „Wind, Sand und Sterne“ veröffentlicht, dass zu einem Bestseller avancierte.


Kann eine Band aus dem kalten Norden den qualvollen, nicht enden wollenden Marsch eines Überlebenden einer Flugzeugkatastrophe durch die Hitze eines endlosen Sandmeeres beschreiben? Definitiv ja, denn Gazpacho schaffen es mit ihrer eigenwilligen Art eine unglaublich dichte und fesselnde Atmosphäre aufzubauen, der man sich nicht entziehen kann.

Hatten mich die Norweger bei ihrem Auftritt im Juni 2008 bei dem Night Of The Prog-Festival auf der Loreley schon mit ihrem atmosphärischen Prog- bzw. Artrock überzeugen können, so ziehen sie mich mit ihrem aktuellen Album vollends auf ihre Seite. Was diese sechs Musiker, vor allem Sänger Jan-Henrik Ohme, der es mit seiner unter die Haut gehenden Art versteht, die Hörer zu hypnotisieren, für einen Spannungsbogen auf dem Album erzeugen, ist schon bemerkenswert. Gleich beim ersten Hördurchlauf konnte ich mich dieser magischen Stimmung nicht entziehen und sie wird bei jedem weiteren Durchlauf noch intensiver.

Vier Stücke bietet das Album, wobei das mehr als 22minütige Titelstück, das den Kern des Albums darstellt, in drei Parts und „The Walk“ in zwei Parts unterteilt ist, sodass die Indexanzeige des CD-Players sieben Stücke aufweist.

Gestartet wird mit dem Song „Desert Flight“, bei dem sich der Protagonist der Story auf dem Flug von Paris nach Saigon befindet. Mit sehr rhythmischem Artrock beschreiben Gazpacho diesen Teil der Reise, gespickt mit herrlichen Keyboardpassagen und straighten Gitarren. Schon in diesem ersten Song zeigt sich die Klasse der Norweger, die sich aber im weiteren Verlauf noch wesentlich steigern soll. Nach gut der Hälfte des mehr als siebenminütigen Stückes reißt der Track ab und sphärische Sounds, die in einen etwas hektischen Part übergehen, künden etwas bedrückend den bevorstehenden Absturz an. Geräusche eines Wüstenwindes leiten nahtlos in den nächsten Song „The Walk“ über. Die Jungs verstehen es vorzüglich mit Effekten eine hohe Spannungsdichte zu erzeugen.

In „The Walk“ wird die Nähe Gazpachos zur britischen Band Marillion (der h-Ära) deutlich. Nicht von ungefähr gibt es unter den Marillionfans eine große Anzahl, die auch Gazpacho treu ergeben sind. Schon in diesem Stück zeigen sich erste Anzeichen der musikalischen Umsetzung von Hoffnung, Trostlosigkeit und Verzweiflung, die den Protagonisten in seinem Überlebenskampf antreiben. Neben den typischen Prog- und Artrock-Elementen fügen die Jungs auch ethnische Klänge, die recht arabisch/orientalisch angehaucht sind, in ihre Musik ein. Dieser mehr als 13minütige Track stellt bereits eine Steigerung zum Eröffnungstrack dar. Und was für Melodien Gazpacho da hervorzaubern ist äußerst beachtlich und Gänsehaut treibend.

Die absolute Steigerung steht dem Hörer aber noch bevor, denn es folgt der Longtrack „Tick Tock“, der einfach nur gigantisch ist, anders kann ich es nicht ausdrücken. Es beginnt mit einer Art tickendem Uhrwerk. Dieses Ticken verfolgt uns auf allen drei Parts des Stückes und ist Sinnbild des einsamen Marsches durch die trockene Einöde der Sahara. Gleichzeitig stellt es auch ein Zeichen für den Ablauf der Lebenszeit von Antoine dar, der dem Verdursten Nahe ist. Musikalisch ist der Track ein wahres Monster, denn Gazpacho vernebeln mit ihrer intensiven Atmosphäre alle Sinne. Langsam entwickelt sich dieses Stück und zieht den Hörer immer weiter in die Geschichte hinein. Man spürt fast den heißen Sand unter den Fußsohlen. Die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle wie Euphorie, Verzweiflung, Trotz, Todesangst und Demut werden bei diesem Stück meisterlich in Klangmalereien, Melodiebögen, sehr effektiv gesetzte Soundeffekte und eine akzentuierte Instrumentierung musikalisch perfekt umgesetzt.

Ein gelungener Effekt ist der Endpart von „Tick Tock Part I“, bei dem Melodieführung und Rhythmus sanft in den Hintergrund abdriften und das tickende Geräusch weiter den Takt angibt, während im Vordergrund ein Männerchor eine unglaubliche, fast bedrohlich/sakrale Stimmung verbreitet. Dann mischen sich Schlagzeug und E-Gitarre so unter diesen Gesang, dass es mir jedes Mal eine Gänsehaut über den Körper treibt. Und die anderen Teile stehen dem in Nichts nach. Wow, was für ein Stück!!!

Als Abschluss rundet der Song „Winter Is Never“ die CD stimmungsvoll ab. Das Stück reißt einen aus der Umklammerung des bisher gehörten heraus und bereitet wieder sanft auf die Realität vor.

Gazpacho ist mit „Tick Tock“ ein Meisterwerk des Prog- und Artrock gelungen. Das neue Album der Norweger gehört für mich jetzt schon zu den Aspiranten der besten CD des Jahres. Wer auf Prog- und Artrock steht, kommt an diesem Album nicht vorbei. Achtung Suchtgefahr!!!!

Stephan Schelle, April 2009

   

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