Crystal Palace – Still There
Progressive Promotion Records (2022)

(12 Stücke, 74:44 Minuten Spielzeit)

Die Berliner Progressive-/Artrockband Crystal Palace hat sich mit ihren bisherigen acht Alben fest in der deutschen Prog-/Artrock-Szene etabliert. Ihr neuestes Album, „Still There“ ist ein Konzeptalbum geworden und befasst sich - ähnlich wie Steven Wilson’s Werk „Hand. Cannot. Erase.“ - mit dem tragischen Tod eines Menschen. Das Album, das in einem vierseitigen Digipack mit 20seitigem Booklet veröffentlicht wird, erschien bereits am 21.05.2022.


Vier Jahre nach ihrem letzten Studioalbum „Scattered Shards“ veröffentlichen sie endlich ein neues Werk. Das ist aber mit fast 75 Minuten Spielzeit auch voll ausgereizt. Auf dem Album finden sich ein Dutzend Stücke mit Laufzeiten von 2:55 bis 10:05 Minuten Spielzeit.

Die Story beruht auf einem tragischen Erlebnis des Sängers, Bassisten und Keyboarders Yenz: Als er die Treppe eines Aussichtspunktes in einem öffentlichen Erholungsgebiet in seiner Heimatstadt Berlin hinaufstieg, sah er die Aufschrift „still alive“, „still there“ an der Wand jedes neuen Stockwerks geschrieben, buchstäblich Minuten, bevor er es passierte. Einige Tage später las er von einem Doppelselbstmord an diesem Aussichtspunkt.

Die Geschichte des Konzeptwerkes (Text aus dem Booklet):

Anfang März 2014 schrieb eine junge Frau kryptische Zeilen an die Wände eines beliebten Aussichtsturms im Süden Berlins. Was diese Worte bedeuteten, erfuhren die Menschen erst einige Tage später, als sie die Zeitungen lasen. Dies ist unsere Interpretation zu dem, was passiert sein könnte ...

Ein etwas wildes junges Mädchen, das die Enge der Umgebung in ihrem ländlichen Dorf in England satt hat, das es leid ist, von den Einheimischen als Außenseiter angesehen zu werden, überredet ihren Freund, mit ihr nach Berlin, Deutschland, zu ziehen. Sie ist sich sicher, dass sie in den Lebensstil der Stadt passen werden, von der sie glaubt, dass sie niemals schläft. Voller Hoffnungen und Träume für die Zukunft setzen sie mit der Fähre von Dover nach Calais über, um England für immer zu verlassen.

Doch als das Mädchen ihrer Mutter nach einiger Zeit schreibt, haben sich die Dinge nicht so entwickelt, wie sie es sich vorgestellt haben. Von ihrem Freund zurückgelassen, spürt das Mädchen eine Depression in sich aufsteigen, da sie sich in der Hektik des Alltags in diesem Moloch von einer Stadt isoliert fühlt. Die Oberflächlichkeit und Bindungslosigkeit der heutigen Gesellschaft, in der alles auf Konsum und Wachstum ausgerichtet ist, überwältigt sie, und sie erkennt, dass es in dieser Welt keinen Platz für sie gibt. Der Neuanfang, den sie gesucht hat, ist zum Anfang vom Ende geworden ...  

Eines Tages klettert sie verzweifelt und in selbstmörderischer Absicht auf den Aussichtsturm am Rande Berlins und blickt über die Stadt in die Ferne, in den Abendhimmel. Das außergewöhnliche Licht der untergehenden Sonne erinnert sie an ihr Lieblingseis, als sie ein kleines Mädchen war. Schöne Erinnerungen werden wach, Bilder von einem Leben ohne Sorgen schweben ihr durch den Kopf, und so beschließt sie, sich wieder auf den Weg die Treppe hinunter zu machen. Auf dem Weg die Treppe hinunter schreibt sie die Worte „8. März. 16 Uhr ... noch da“ an die Wand. Doch schon bald verdüstert sich ihre Stimmung wieder...

Am nächsten Tag kehrt sie zurück und steigt erneut die Treppe hinauf. Die Aussichtsplattform hat Fenster und eine Tür, die zu einer kleinen Terrasse führt. Viele Menschen stehen dort und beobachten die Landschaft an diesem schönen Tag. Sie beobachtet diese Menschen, die ihr Leben noch vor sich haben, wie eine Mutter, die ihr Kind an der Hand hält, scherzt und das Leben genießt.

Sie hat jetzt alles hinter sich gelassen und hat keine Angst mehr. Sie denkt an ihre verlorene Liebe, ruhig und sicher, was sie zu tun gedenkt ...

Niemand nimmt Notiz von ihr, die Menschen sind mit sich selbst beschäftigt, ohne zu wissen, was gleich geschehen wird. Ihr Ziel ist ein in der Sonne glitzerndes Fenster, durch das andere Menschen ein schönes Leben sehen können. Sie könnte sich noch umdrehen, aber das ist keine Option mehr für sie. Ihr Schicksal ist besiegelt. Am nächsten Tag erreichen die schrecklichen Nachrichten unsere Wohnzimmer und lassen uns mit quälenden Fragen und der Suche nach Verantwortung zurück. Hätte diese Tragödie verhindert werden können? ... Warum hat niemand etwas bemerkt? Jetzt liegen nur noch Erinnerungen auf dem Boden. Wir machen weiter mit unserem Leben und schließen das Fenster ... wir sind immer noch da ...

Das Album beginnt mit der 2:48minütigen Einleitung „126 Steps“. Dieser Track ist sehr keyboardlastig, atmosphärisch und cineastisch und bereitet sehr gut auf die Thematik des Albums vor. Nahtlos geht es dann in den nächsten Song, dem 8:53minütigen „Leaving This Land“ über. Hier kommen neben den Keyboardsounds vor allem druckvolle Gitarren und Schlagzeug auf. Nach gut einer Minute entwickelt sich dann ein Rocksong, der sich im Neoprog-Umfeld bewegt. Das machen Crystal Palace auf hohem Niveau. Dabei wechseln sie Struktur, Rhythmus und Melodie, so dass der Spannungsbogen hoch bleibt.

Dann geht es nahtlos weiter in das 9:48minütige „A Plan You Can’t Resist“, bei dem sie sehr ruhige Passagen mit kraftvollen Riffs ergänzen. Cellosounds und Keyboardflächen sorgen für die dramatischen Momente, die mehrmals in die druckvollen Passagen einbrechen. Das Stück „Planned Obsolenscence“ weist in Richtung RPWL und „Shadows“ verbindet proggige Elemente der Marke Galahad mit heftigen Metalriffs.

Der Konzeptcharakter wird durch eingeflochtene gesprochene Passagen (in „Dear Mother“ und „Planned Obsolenscence“ sowie einem Herzschlagrhythmus mit eindringlich gesprochenem Text in „Unquite Window“) noch verstärkt.

Crystal Palace haben durch die ineinander fließenden Songs ein kompaktes Werk geschaffen, das vor Intensität, Dichte und Komplexität nur so strotzt. Sie haben mit ihrem Konzeptalbum „Still There“ ihr bisher bestes Werk erschaffen. Die Musik auf dem Album ist stilistisch im Neoprog verortet und mit kraftvollen Elementen verwebt. Ein klasse Album.

Stephan Schelle, Juni 2022

   

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