Arjen Anthony Lucassen – Lost In The New Real

Arjen Anthony Lucassen – Lost In The New Real
insideout music (2012)
(20 Stücke, 90:20 Minuten Spielzeit)

In der Metal-, Hardrock und Progressiverock-Szene ist der Name Arjen Anthony Lucassen seit Jahren ein Begriff, ist er doch als Mastermind verantwortlich für die Projekte Ayreon und Star One, unter deren Namen er zahlreiche eindrucksvolle Rockalben, die das Ausmaß von Rockopern besitzen, veröffentlichte. Im Jahr 2012, genauer gesagt am 20.04.2012, veröffentlicht er nun ein Album unter seinem eigenen Namen. Es trägt den Titel „Lost In The New Real“.


Hatte sich Arjen bei seinen Projekten immer zahlreicher Gastmusiker bedient, so wandelt er auf seinem neuesten Werk tatsächlich auf Solopfaden, denn er spielte die meisten Instrumente selbst ein und hat auch die Songs alle allein eingesungen. „Ich brauche auf jedem Album eine Herausforderung“, erklärt Arjen. „Und dieses Mal wollte ich eben sehen, ob ich ein interessantes Album abliefern kann, ohne eine spektakuläre Schar berühmter Lead-Sänger mit dabei zu haben. Ich war schon immer ziemlich kritisch, was meinen eigenen Gesang anbelangt. Doch auch auf die Gefahr hin, arrogant zu klingen, denke ich, dass ich inzwischen viel besser geworden bin. Wird ja auch langsam Zeit, schließlich bin ich schon 51.“ Und wenn man das fertige Produkt hört, fragt man sich, warum Arjen in der Vergangenheit nicht öfter zum Mikro gegriffen hat.

Dass es aber nicht ganz ohne Gastmusiker ausgehen konnte, zeigt sich am Einsatz weiterer Instrumente. Am Album haben mitgewirkt: Wilmer Waarbroek (Backgroundgesang), Ben Mathot (Violine), Maaike Peterse (Cello), Jeroen Goossens (Flöte), Ed Warby und Rob Snijders (Schlagzeug) und Elvya Dulcimer (Hammered Dulcimer und Gesang auf „Battle of Evermore“).

Wer jetzt ein Album im Stile von Ayreon oder Star One erwartet, der liegt völlig falsch, denn Arjen Anthony Lucassen zeigt sich auf seinem Solowerk unglaublich vielschichtig. Das Album enthält eine Reihe kontrastierender Stile wie Prog, Rock, Folk, Metal, Industrial und sogar Pop und darf somit gut und gerne als Arjens bis dato komplexestes Werk bezeichnet werden. „Das ist wirklich ein furchtloses Album. Es ist dermaßen vielschichtig, dass man einen offenen Geist haben muss, um etwas damit anfangen zu können.“ Arjen hat die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, seinen musikalischen Musen zu folgen, ohne dabei irgendwelche Kompromisse eingehen zu müssen. „Etablierte Projekte wie Ayreon oder Star One bringen gewisse Erwartungshaltungen mit sich – wenn du zu weit davon abweichst, gehst du das Risiko ein, die Leute zu enttäuschen. Bei meinen letzten Releases war ich also sehr darauf fokussiert, die Fans zufrieden zu stellen. Diese Mal aber nicht: ‚Lost In The New Real’ ist ein schamlos egomanisches Album, auf dem ich meinem Herz folge und zu meinen Inspirationsquellen wie den Beatles, Pink Floyd und Led Zeppelin zurückkehre. Natürlich hoffe ich, dass die Leute das Ergebnis mögen werden, doch dieses Album entstand eindeutig nicht unter dieser Zielsetzung.“

Ein Musiker ist meist am Besten, wenn er genau das tut, was ihm Spaß macht und nicht das, was von ihm erwartet wird. Und genau das hat Arjen Lucassen gemacht. Während die erste der beiden CDs eigene Stücke enthält, die in vielen Fällen bekannte Muster aufweisen, die an andere große Musiker erinnern, bietet die zweite CD neben Stücken weiteren Eigenkompositionen, die nicht ganz zum Thema der ersten passten, einige Coversongs von Led Zeppelin, Frank Zappa, Blue Oyster Cult, Alan Parsons Project und Pink Floyd.

Wie man es von Arjen erwartet, ist „Lost In The New Real“ ein Konzeptalbum. „Ich wuchs in einer Zeit ohne Computer auf und bin absolut verblüfft, wie sehr sich die Welt dank der digitalen Revolution in den vergangenen Jahren verändert hat. Das hat mich zum Nachdenken gebracht: Wie wird die Welt in ein paar hundert Jahren sein? Wie werden dann die Technologie, Wissenschaft und die Gesellschaft aussehen? Welche Lösung wird man für die derzeitigen massiven gesellschaftlichen und ökologischen Probleme gefunden haben?“ Diese Gedanken inspirierten das Gesamtkonzept des Albums: Die Geschichte folgt Mr. L, einem Mann aus dem 21. Jahrhundert, der kurz vor seinem klinischen Ableben durch eine tödliche Krankheit kryokonserviert wurde. Das Album beginnt damit, dass Mr. L in der fernen Zukunft wiederbelebt wird, als die Technologie so weit fortgeschritten ist, dass man seine Krankheit heilen kann. Mr. L findet sich in einer Welt wieder, die sich drastisch verändert hat – sogar so weit, dass die Grenze zwischen Realität und Fantasie nicht mehr klar definiert ist. Sein psychologischer Berater (gesprochen von Rutger Hauer) soll ihn dabei unterstützen, sich emotional an die seltsame neue Welt anzupassen.

Die erste CD beginnt mit dem Titelstück mit pumpenden Beats. Das erinnert mich an Soundtracks der Marke John Carpenter. Zu diesem Sound spricht dann die Stimme des Hollywood-Schauspielers Rutger Hauer (er ist auch bei weiteren Stücken zu hören) einen Text. Kurz darauf geht der Song los, der im Stile der Band OSI gehalten ist. Ähnlich wie OSI vermag es Arjen hier industrielle, elektronische Sounds mit Rock und Metal  zu verbinden. Seine Stimme klingt dazu eine Spur nach Tim Bownes. Schon dieser erste Track löst bei mir eine Gänsehaut aus. Dieser Song hat mehr von Proggressive Rock, als von Metal. Im zweiten Stück „ Pink Beatles In A Purple Zeppelin“ klingen dann deutlich beatleske Strukturen und Sounds durch.

„Parental Procreation Permit“ wirkt proggig und psychedelisch (durch den Einsatz von arabischen bzw. asiatischen Klangmustern), während im nächsten Song „When I’m A Hundred Sixty-Four“ eine Spur Folk/Mittelalter durch Perkussion, Flöte und Violine ins Spiel kommt. Und so abwechslungsreich geht es auf dem ganzen Album weiter.

Die eigenen Songs auf der zweiten CD stehen den Stücken der ersten CD in nichts nach. Die Coverversion von Pink Floyd’s „Welcome To The Machine“ enthält zwar immer noch den Spirit vom Original, wird in dieser Interpretation aber in ein Metalgewand gepackt. Und auch in den Coverversionen von Led Zeppelin’s „Battle Of Evermore“ und Alan Parsons’ „Some Other Time“ sind die Grundzüge und stilistischen Eigenheiten enthalten, wurden aber von Arjen im eigenen Stil interpretiert. Dieses Mal verzichtet er auf Metal, die Stücke klingen dafür rockig und hymnisch zugleich. „Battle Of Evermore“ klingt recht melodisch nach AOR und kann so die mystische Wildheit von Led Zeppelin in keinster Weise einfangen. Und in Zappa’s „I’m The Slime“ imitiert Arjen gar die Stimme des charismatischen amerikanischen Rockmusikers.

Das wunderschöne Package, vom auffälligen Artwork von Claudio Bergamin illustriert, enthält zwei CDs: Die Songs auf CD1 folgen Mr. Ls emotionaler Reise, während er sowohl mit ernsthaften als auch komischen Aspekten des „New Real“ konfrontiert ist und verzweifelt versucht herauszufinden, ob er darin einen sinnvollen Platz einnehmen kann. CD2 enthält einen Mix aus Songs, die Teil des Konzepts sind, aber nicht auf CD1 gepasst haben, sowie Cover-Songs, die (mehr oder weniger) einen Bezug zum Konzept haben. Wie es Arjens Fans gewohnt sind, enthalten beide CDs informative und lustige „Behind The Scenes“-Videos als CD-ROM-Tracks.

„Lost In The New Real“ ist ein tolles Album mit einer großen stilistischen Vielfalt geworden. Für mich hat Arjen Lucassen damit ein Meisterwerk abgeliefert. Diese CDs werden noch häufig ihre Runden in meinem Player drehen, aufgrund dessen ich jedem Rockfan das Album sehr empfehlen kann.

Stephan Schelle, April 2012

   

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