Agitation Free – Shibuya Nights – Live In Tokyo
 

Agitation Free – Shibuya Nights – Live In Tokyo
Esoteric Records / Rough Trade (2011)
(14 Stücke, 73:52 Minuten Spielzeit)

Von allen experimentellen Gruppen in Deutschland, die in den frühen 70’er Jahren ans Licht traten, waren Agitation Free sicherlich eine der musikalisch mutigsten und innovativsten ihrer Zeit. Seit ihren Anfängen im Jahr 1967 entwickelte die Band ein Konzept von langen und freien Musikimprovisationen und experimentierte mit Flüssigkeitsprojektoren, integrierte Dia-Shows und eigene Filme in ihre Live-Shows. Das von Agitation Free initiierte legendäre „Electronic Beat Studio“ in West-Berlin entwickelte sich unter der Leitung von Thomas Kessler als kreatives Zentrum auch für die Berliner Gruppen Ash Ra Tempel und Tangerine Dream.


Den Sound von Agitation Free charakterisiert die damals Bahnbrechende Elektronik von Michael Hoenig, der in Deutschland zu den Besten seines Genres gehört und der in der Lage ist, atmosphärische Melodien und kraftvoll aufeinander geschichtete Klanglandschaften zu erschaffen, die den Stil der Band definierten. Ebenso außergewöhnlich sind die Gitarristen Lutz „Lüül“ Ulbrich und Gustl Lütjens, deren Fingerfertigkeiten mit Leichtigkeit in der Lage sind, exotische fernöstliche Linien oder aszendente Melodien zu kreieren. Schlagzeuger Burghard Rausch und Bassist Michael „Fame“ Günther sind eine polyrhythmische Rhythmusgruppe der Extraklasse, die die Musik vorantreibt. Nach der Veröffentlichung der zwei Kult-Alben (die Klassiker „Malesch“ in 1972 und „2nd“ im Jahr 1973) beim deutschen Ableger des legendären Vertigo-Labels trennte sich die Band allerdings im Jahr 1974.

Im Februar 2007 gab die wiedervereinigte Band eine Reihe von Konzerten in Tokio. Anlass war die Einweihung einer Wachsfigur des Keyboarders Michael Hoenig in der Progressive Rock-Abteilung des Tokyo Tower Wax Museums. Ein Wachs-Ebenbild von Agitation Free-Gitarrist Lutz Ulbrich steht dort bereits seit mehreren Jahren. Wie das Schicksal es wollte, passte alles perfekt zusammen. Alle drei Konzerte im „Shibuya O’West“ im Tokio Shibuya-Bezirk wurden als Mehrspur-Aufnahme mitgeschnitten. Hoenig stellte die herausragenden Versionen in der ursprünglichen Abfolge der drei Konzerte zusammen. Das daraus resultierende neue Album „Shibuya Nights“ ist ein grandioser Beweis dafür, dass Agitation Free immer noch als eine der besten und originellsten Bands unter vielen anderen illustren deutschen Zeitgenossen bleibt.

Das großartige neue Live-Album „Shibuya Night“ enthält fünf Stücke aus „Malesch“ und fünf aus „2nd“, drei völlig neue Kompositionen sowie „Nomads“ und „Das kleine Uhrwerk“, beide aus dem 1999 erschienenen Album „River Of Return“. Soweit der Pressetext.

In Deutschland erscheint dieser Mitschnitt aus dem Jahr 2007 am 04.11.2011 beim Label Esoteric Recordings (in Großbritannien wird es bereits drei Wochen vorher veröffentlicht).

Die CD beginnt mit „You Play For Us Today“. Hier kommen zunächst eine Flughafenansage und ein startendes Flugzeug aus den Boxen. Dann setzt Hoenigs Keyboard ein. Schon zu diesem Zeitpunkt sticht der sehr transparente und dynamische Klang der Aufnahme ins Ohr. Das Schlagzeug und die E-Gitarren gesellen sich hinzu und es entwickelt sich ein absolut hypnotischer Track. Nahtlos geht es dann in „Sahara City“ weiter, einem Stück das zunächst arabisches Flair durch die Perkussion verbreitet und dann recht psychedelische, abgefahrene ambiente Sounds bietet. In diesen Momenten assoziiert es einen Sandsturm, oder ähnliches.

Eine ganz andere Stimmung verbreitet das akustisch wirkende „In The Silence Of The Morning Sunrise“. Hier klingt 70’er Jahre Stil durch, allerdings in einer unerhört guten Klangqualität. Mit „Shibuya Nights“ kommt dann eine Neukomposition zu Gehör. Sind Anfangs noch elektronische Sounds dominant, so ändert sich dies nach wenigen Momenten und Michael und Burghard dominieren dieses Stück mit unglaublich schwer wirkender Perkussion. Aber genau diese sind es, die das Stück ausmachen. Darauf platziert Michael Hoenig seine elektronischen Klänge und Lutz bzw. Gustl die E-Gitarre. Ein echtes Hammerstück.

„First Communication“ übermannt den Hörer zunächst wie einen Gewittersturm. Diese Drones zu Beginn des Stückes hauen einen förmlich um. Erst wenn dass Lutz bzw. Gustl’s Gitarre die Oberhand bekommt und Michael seinen Bass hinzufügt sowie die anderen Instrumente einsteigen, entwickelt sich ein melodisches Stück, das im Verlauf sehr filigran wirkt. Ebenfalls ein Highlight des Albums.

Es folgen noch ein hypnotisches „Ala Tul“, „Laila“ mit seinen aufgeschichteten dualen Gitarrensoli, die einer Gitarren-Jamsession gleichkommen (toller Rocksong), das ist einfach klasse gemacht und vernebelt dem Hörer mit seinem immer ekstatischer werdenden Gitarrenduell die Sinne. Der letztgenannte Song geht in „Nomads“ über das sehr ethnisch und sphärisch angelegt ist, vor allem durch die herrlichen Rhythmen. Als Atempause auf diesen perkussiven Track folgt dann mit „A Quiet Walk“ ein recht ruhiges ambientes Stück, das im zweiten Teil dann doch noch rockige Strukturen hat, sobald Gitarren und Schlagzeug hinzukommen.

„Das kleine Uhrwerk“ aus „River Of Return“ ist eine schöne exotische Abwechslung, bei der die beiden Ukulelen von Lutz und dem japanischen Schauspieler Issey Ogata – als Gastmusiker – gemeinsam mit der elektrischen Slide-Gitarre von Gustl im Mittelpunkt stehen. Gemeinsam verflechten und weben sie einen Klangteppich aus einer zarten Folk-/Jazz-Fusion, der leicht über einer agilen Rhythmus-Sektion schwebt. Da ist nichts mehr hinzuzufügen. Es folgt das mit herrlichen Orgelsounds verzierte „Malesch“, das wie eine Jazzrocknummer mit ethnischem Einschlag klingt. Dabei verströmt das Stück einen gewissen nostalgischen Charme.

„Drifting“ ist eine atmosphärische Nummer und mit dem letzten Stück „Rücksturz“ beenden Agitation Free diese CD sehr kraftvoll und rockig. Hier geben sie noch mal alles. Vor allem das von Gustl gespielte Gitarrenmotiv und die druckvollen Drums bestimmen dieses kurze Stück, das in einer Soundexplosion ausklingt, auf die dann der verdiente Applaus folgt.

Es ist erstaunlich, wie es Michael Hoenig hinbekommen hat die Konzertmitschnitte so perfekt zusammenzustellen. Es ist kein Bruch zu spüren und vor allem der kristallklare Klang macht aus der Produktion ein Juwel. Ein toller Livemitschnitt, der den oben abgedruckten Pressetext voll bestätigt. Muss man haben!!

Stephan Schelle, September 2011

   

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