Ihre zu Beginn noch
vorherrschende destruktive und nihilistische Grundhaltung entsprach zwar
dem Zeitgeist des Post-Punk der frühen 80er Jahre, jedoch konnte die
Umsetzung radikaler nicht sein: Schlagwerker F.M. Einheit malträtierte
die Bühne mit einer Bohrmaschine, Kopf und Sänger Blixa Bargeld spielte
die Gitarre in frühen Tagen gerne mit einem Rasierapparat. Wenn es
Parallelen gab, dann allenfalls zur Musique concrète.
Doch schon sehr bald, von ihrer stetig
wachsenden Fangemeinde fast unbemerkt, verfeinerte sich das Bild:
Vergleiche zu britischen, auf Ölfässern trommelnden Epigonen wie Test
Department oder SPK lehnte Blixa Bargeld schon sehr früh ab und wunderte
sich bereits in einem mit mir geführten Interview von 1985 darüber,
warum man die Parallelen zu Gruppen wie den Ton, Steine, Scherben so
sträflich übersehen würde.
In der Tat schafften es die Neubauten
sehr schnell, dem puren Industrial-Klischee durch Individualität,
Raffinesse und vor allem lyrischen Gehalt zu entfliehen. Auch ohne
schmetterndes Metal vermochten es die Neubauten schon auf ihren Alben
„Die Zeichnungen des Patienten O.T.“ oder „5 auf der nach oben offenen
Richterskala“ bedrückende, filigrane und sphärische Klangbilder zu
schaffen („Armenia“, „Kein Bestandteil sein“).
Blixa Bargelds Faszination für die
deutsche archaische Sprache, zu erleben u.a. in dem Song „Ein Stuhl in
der Hölle“ (einen Text, den Bargeld in einem Buch mit alten Küchenlieder
gefunden hat) waren auf ihrem 1989er Album „Haus der Lüge“, das auch den
Nukleus dieses Rockpalast-Konzert bildet, unüberhörbar.
Die Einstürzenden Neubauten benutzen
die Sprache ganz bewusst völlig anders als andere Bands jener Zeit. Die
deutsche Sprache wurde erweitert, indem auf ihre Ursprünge
zurückgegriffen wird.
Blixa Bargeld formulierte es 1989 so:
„Ich liebe die deutsche Sprache, aber manchmal ist sie mir zu eng.
Manchmal ist es nötig, Worte neu zu beugen und manchmal ist es nötig,
auf Worte zurück zu greifen, die in ihrer Assoziation nicht so
vorbelastet sind. Ein Wort wie „Liebe“ kann man nicht gebrauchen, das
ist das beste Beispiel. Es ist ein Fußabtreter, vorbelastet mit tausend
Assoziationen, die noch nicht mal bei jedem Menschen gleich sind.“
Die DVD zeigt die Band in der
Besetzung Blixa Bargeld (Gitarren, Gesang, Keyboards), Alexander Hacke
(Gitarre), N.U. Unruh (Perkussion), F.M. Einheit (Perkussion) und Mark
Chung (Bass). Neben der DVD sind die Stücke ebenfalls auf beigefügter CD
enthalten. Das Filmformat liegt in 4:3 und der Ton in PCM Stereo vor.
Auch wenn die Einstürzenden Neubauten
zum Zeitpunkt dieses Konzertes am Wendepunkt zu etwas kommerzielleren
Klängen standen, so zeigen sie dennoch einen sehr verstörenden und
avantgardistisch/punkigen Auftritt. Sicherlich ist hier wieder ein
Zeitdokument auf DVD erschienen, für „Normalkonsumenten“ stellt die DVD/CD
aber schon eine Herausforderung dar.
Stephan Schelle,
November 2012