Jan Reetze - Der Sound der Jahre
Halvmall (2022)

(ISBN: 978-3-9822100-2-5, 536 Seiten)

Bereits im Jahr 2020 erschien die englischsprachige Ausgabe des Buches „Der Sound der Jahre“ von Autor Jan Reetze. Anfang 2022 ist nun endlich die deutsche Ausgabe auf dem Markt gekommen.

Zunächst einige Angaben des Verlags zum Autor: Jan Reetze, Jahrgang 1956, brachte Mitte der Siebziger einige Zeit an den Mischpulten der Hamburger Alster-Studios zu, war dann eine Zeitlang Industriekaufmann und studierte später Soziologie, Politikwissenschaft und Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg. Danach eher kurze Zwischenspiele am Institut für Soziologie der Uni Hamburg, in einem Markt- und Meinungsforschungsinstitut und als Geschäftsführer eines Musikverlages. Daneben arbeitet er seit 1987 als Buch-, Hörfunk- und Drehbuchautor. Er lebt heute mit seiner Frau in Pittsburgh, Pennsylvania. Wie aber aus dem Buch zu entnehmen ist, hat er seit Ende der 60’er Jahre die Entwicklung der Musik in Deutschland sehr intensiv erlebt und nimmt die Leser in seinem Buch mit auf eine Zeitreise der besonderen Art.

Das Buch hat zwar die deutsche Rockmusik im Fokus, der Untertitel „Westdeutschlands Reise von Jazz und Schlager zu Krautrock und darüber hinaus – Ein Trip durch fünf Musikjahrzehnte“ macht aber schon deutlich, dass sich Reetze mit der musikalischen Entwicklung im Ganzen beschäftigt. Dabei wirft er auch immer einen Blick auf die gesellschaftliche und politische Situation in Westdeutschland (die ehemalige DDR wird dabei nur am Rande gestreift). So wird beispielweise auch auf die Studentenbewegungen und die RAF eingegangen. Das rundet das Bild der Musikentwicklung sehr gut ab und macht einige Strömungen und Entwicklungen auch besser verständlich. Das trifft auch auf die Gegebenheiten zu, mit denen sich ein Künstler oder eine Band im Haifischbecken Musikbusiness am Leben halten musste. Auch die Wichtigkeit von Produzenten wie Conny Plank, Dieter Dierks und Rolf Ulrich Kaiser (Ohr, Pilz, Kosmische Kuriere) wird entsprechend Platz geboten.

Hans-Joachim Roedelius (Kluster/Cluster/Harmonia) schreibt unter anderem in seinem Vorwort: „Für Experten, ebenso wie für Krautrock-Neulinge, eröffnet dieses Buch nicht nur einige Perspektiven zum ersten Mal, sondern es vermittelt auch einen Gesamtüberblick über das weite Feld der Rockmusik in Deutschland.“ Und genau diese Aussage trifft es auch auf den Punkt. Als Jahrgang 1958’er hat mich vor allem die Rockmusik der 70’er Jahre sehr geprägt. So weckt Reetze bei mir beim Lesen einige Erinnerungen an die damalige Zeit. Neben gesellschaftspolitischen Fakten sind dies auch einigen Hinweise z.B. zu meinen damaligen Plattenkäufen, bei denen sich einige Parallelen auftuen. Zwar wohnte ich mehr im ländlichen (NRW) doch auch ich hatte den GOVI-Versand in Hamburg schnell auf meiner Liste der Plattenhändler meines Vertrauens, da hier vor allem günstig LP’s bestellt werden konnten (vor allem, wenn man dann noch durch Sammelbestellungen die Portokosten gering halten konnte). Man erfährt im Buch, dass GOVI bei die Abschaffung der Preisbindung bei Tonträgern eine große Rolle spielte.

Jan Reetze hat einen sehr angenehmen Schreibstil, der das Lesen des Buches zu einem Genuss macht. Hat man einmal mit dem Buch begonnen, legt man es nicht so schnell mehr aus der Hand und erfährt zahlreiche Infos zur Entwicklung der Musik, den Musikstilen und den Künstlern und ihren Verbindungen. Darüber hinaus räumt er mit einigen Mythen auf und erstaunt immer wieder mit Infos und Geschichten zu Musikern und deren Einstellung zur Musik bzw. zu ihrem Image, die man so nicht erwartet hätte. So haben die Rockmusiker aus deutschen Landen zwar immer behauptet, dass sie Schlager nicht mögen und ihn ablehnen, Reetze deckt aber auf, auch durch Kommentare von Musikern selbst, die hier zahlreich zu Wort kommen, dass diese bei zahlreichen Schlagerproduktionen, Produktionen von Billiglabels wie z. B. Europa (oft Coverversionen, die sich kaum von den Originalen unterschieden), oder in Bigbands von Max Greger oder James Last beteiligt waren, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. So schreibt er beispielsweise: „In Wirklichkeit war die deutsche Rock- und Schlagerszene ziemlich klein, jeder kannte jeden, und jeder wusste, wer welche Leichen im Keller hatte, also maskierte man sich.“

Das Buch ist in zahlreiche Kapitel unterteilt die unter anderem die folgenden Bereiche abdecken:

      Frühe Jazz- und Swing-Orchester
      Rock’n’Roll und der Hamburger Star Club
      Die Geschichten von Amon Düül II, Can, Kraftwerk, Cluster, NEU! und anderen Bands
      Ein detaillierter Überblick über die Musiklandschaft der 60er und 70er Jahre: Düsseldorf, Hamburg, Berlin School, Agit Prop und mehr
      Studios und Produzenten – Conny Plank, Dieter Dierks, …
      Rolf-Ulrich Kaiser: die ganze Geschichte!
      Elektronische Revolution: Stockhausen, Carlos, Sala & Co.
      Die Münchener Moog-Pioniere: Schoener, Fricke, Moroder
      Der Aufstieg der neuen Deutsche Welle (NDW) und vieles mehr …

„Der Sound der Jahre“ bietet einen umfassenden Einblick in die Mechanismen der Musikindustrie des Nachkriegsdeutschlands und beleuchtet die vielfältigen Musikstile sowie deren bisher wenig beachtete gegenseitige Einflüsse und Verbindungen:

Von den Anfängen deutscher Jazz- und Swing-Orchester über die ersten Rock ‘n’ Roll-Bands rund um den Hamburger Star-Club bis hin zu den Pionieren des Synthesizers. Von der heilen Welt des Schlagers bis zu Agitprop und linken Protestsongs. Von avantgardistischen Kompositionen Karlheinz Stockhausens und seinen vermeintlichen Jüngern des Krautrocks bis hin zur Neuen Deutschen Welle.

Ich kenne kein anderes Buch auf dem deutschen Markt, das die Geschichte der deutschen Rockmusik mit Fokus auf den Krautrock so detailliert und informativ darstellt. Reetze lässt in seinem Buch „Der Sound der Jahre“ auch an vielen Stellen seine eigene Meinung mit einfließen. Wer die Zeit erlebt hat, oder aber sich als „zu spät geborener“ mit dem Thema der Entwicklung der Rockmusik in Deutschland auseinandersetzen möchte, der bekommt hier den perfekten Lesestoff. Ein überzeugendes Werk, das man gelesen haben muss.

Stephan Schelle, Januar 2022


 
 

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